Ulrike Wollenhaupt-Schmidt
Grenzgängerinnen
Westdeutsche Frauen im Osten
Erfahrungsberichte
„mitgegangener“ Frauen
Für
Sigrid K.
Vorbemerkung
Diesen Text verfasste ich als 2004 Überlegung bzw. Vorwort für ein Buch. Ich kannte so viele Frauen, die mit ihren Männern "mitgegangen" sind, deren Wechsel in die neuen Bundesländer nicht einer freiwilligen selbstbestimmten Entscheidung entsprachen. Viele von ihnen sind bis heute meine Freundinnen. Julia ist zurück in den Westen gegangen, Beate trotz Trennung geblieben, Elisabeth ist Rentnerin. Nach der erneuten Lektüre des Vorwortes habe ich mir überlegt, das Projekt, das ich längst vergessen hatte, wieder zu realisieren.
Einführung
"Von
Ihnen hätte ich nicht gedacht, dass Sie aus dem Westen sind!"
"Dass du nicht von hier bist, habe ich gleich gemerkt."
"Aus Erfurt kommen Sie aber nicht."
"Für einen Wessi bist du eigentlich ganz normal"
Ein paar sehr unterschiedliche Sätze, die ich hier öfter und in verschiedensten Variationen gehört habe und die, auch dann, wenn sie nett waren, bei mir gemischte Gefühle, manchmal Freude, manchmal Verunsicherung auslösten. Habe ich mich beispielsweise so angepasst, dass ich meine "westdeutsche Identität" verloren habe? Ist diese Identität überhaupt so ein schützenswertes Gut? Woran bloß merkt man auf der anderen Seite nach 8 Jahren noch, dass ich von "drüben" komme? Schon zu DDR-Zeiten habe ich mich gefragt, woran sie einen in Ost-Berlin erkannt haben. Ich war Studentin, und für teure Klamotten hatte ich kein Geld. Das scheint das Zeichen nicht gewesen zu sein.
Gut, dass ich keine Erfurterin bin, erkennt
man am fehlenden Dialekt, doch auch nicht jeder Ostbürger spricht thüringisch,
sächsisch oder brandenburgisch. Aber offenbar gibt es bis heute Unterschiede,
die sich am Dialekt nicht festmachen lassen, an der Sprache schon eher. In
meiner Anfangszeit habe ich mich hoffnungslos als Wessi geoutet, wenn ich im
Supermarkt, statt in der Kaufhalle nach einer Plastiktüte statt nach einem
Plastebeutel fragte. Heute sind diese Worte längst, zunächst in parodistischer
Absicht, später unbewusst in meinen Sprachschatz eingeflossen. Jedoch entlockt
es mir immer noch ein mildes Lächeln, wenn ganz normale Menschen von einer
Gruppe von Arbeitskollegen als "Kollektiv" sprechen, ein Ausdruck,
der im Westdeutschland der Nach-68er eher im Milieu linker Buchläden oder im
Rahmen alternativer Projekte anzutreffen war.
Noch ein Beispiel sprachlicher Verwirrung aus meiner Anfangszeit: In Westdeutschland
hießen die weiblichen Angestellten einer Arztpraxis "Sprechstundenhilfen"
und bei "Frau Müller" fragte ich um einen Termin bei der Ärztin nach.
Hier, im Osten meldet sich "Schwester Petra" am Telefon. Und wenn ich
mit der Ärztin sprechen möchte, muss ich nach der "Doktorin" fragen,
auch wenn sie nicht promoviert hat[1]. Diese
sprachlichen Details traten tatsächlich manches Mal zwischen mich und meine
Mitmenschen. Reagierten sie zunächst freundlich auf die hochschwangere
"Mutti" eines kleinen Kindes, so entstand, kaum hatte ich den Mund
aufgemacht, kühle, zum Teil eisige Distanziertheit.
Als feststand, dass wir endgültig vom Westen in den Osten umziehen würden - mein Mann arbeitete dort schon seit drei Jahren - war ich sehr glücklich. Einmal, um wieder vom Dorf in die Großstadt, noch dazu in eine sehr schöne mit Theater, Oper und Kunstmuseum, zu ziehen. Andererseits war ich auch neugierig auf die Menschen, die keine 10 Jahre zuvor Staatsbürger eines anderen Landes, ja irgendwie Ausländer waren. Ausländer, die ich schon zu DDR-Zeiten als deutscher als viele Westdeutsche erlebt hatte. Durch ihr Anderssein waren diese Fremden von der Aura des Besonderen umgeben: Die Frauen schienen mir emanzipierter zu sein, die Kinder wohlerzogener als die im Westen. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass die Gesellschaft im Osten kinderfreundlicher sei. Auch schienen soziale Unterschiede nicht so eine gravierende Rolle zu spielen wie ich sie aus meiner Gesellschaft kannte. Die "soziale Wärme" der Ex-DDR, die so oft beschworen wird, auch die gehörte zum Repertoire meiner Vorstellungen. Ich war also relativ positiv gegenüber meiner zukünftigen Heimat eingestellt.
Als 1989 die ersten Ostbürger in Göttingen, wo wir seinerzeit lebten, ankamen - wir hatten auf Grund einer wissenschaftlichen Tagung die Öffnung der Grenze nur am Rande mitbekommen - beobachteten wir neugierig die Menschen, die in ihren stone-washed Jeansanzügen mit Kunstfellbesatz durch die Weender Straße strömten. Es war eine ungewöhnliche Situation. Karstadt und andere Kaufhäuser hatten am Sonntag geöffnet, um den Gästen zu ermöglichen, ihr Begrüßungsgeld gleich wieder loszuwerden. Die CDU hatte auf dem Platz vor dem Rathaus einen Stand aufgebaut, wo sie Bananen an Ostbürger verteilte. Honni soit qui mal y pense. Und schnell wurde aus dem Ausnahmezustand Normalität. Die ersten Angestellten an der Fleischereitheke bei Herkules sprachen Thüringer Dialekt, aus Staatsbürgern der DDR wurden bekanntlich unsere Mitbürger "aus den neuen Bundesländern". Von Zeit zu Zeit war ich besuchsweise in Erfurt, fand mich von den dortigen Einwohnern freundlich aufgenommen. Erfurt war trotz langjährigem Sanierungsstau und vieler verfallender Häuser eine charmante Stadt, die im Zentrum von dem Modernismuswahnsinn, wie wir ihn von der boomenden Bundesrepublik der 60er Jahre kannten, verschont geblieben war. So war es auch in anderen Städten im Osten, die wir damals besuchten, Naumburg, Werningerode, Halberstadt, die sich ihren altertümlichen Charme gewahrt hatten.
In Erfurt eine Wohnung zu bekommen, war seinerzeit nicht ganz einfach. Ungeklärte Eigentumsverhältnisse und der Verfall vieler verlassener Häuser ließen die Mietpreise in exotische Dimensionen explodieren. So waren wir froh, im Norden der Stadt eine vergleichsweise einigermaßen bezahlbare und einigermaßen sanierte Altbauwohnung zu erwischen. Die Kollegen meines Mannes, zumindest die Erfurter unter ihnen, spotteten, was wir denn im Blechbüchsenviertel wollten. Was der Begriff bedeutete, habe ich erst Jahre später erklärt bekommen.
Ich war froh, wieder in der Stadt zu wohnen und hatte am Morgen nach unserem Umzug, als ich Brötchen und Milch gleich um die Ecke kaufen konnte, den Wunsch, jedes einzelne Haus zu umarmen. Schon bald aber fielen mir einige Dinge auf, die ich nicht geahnt hatte. Menschen aus nicht unbedingt den gehobenen sozialen Milieus, die in ungeahnter Feindseligkeit reagierten. Als wir einmal die Straße blockierten, um einen Kinderwagen ins Auto zu laden, konnten wir hören, wie einer unserer Nachbarn brüllte: "Der macht das immer so. Der kommt aus dem Westen, aus Göttingen." Klar hatte das Göttinger Nummernschild uns sofort als "Wessis" enttarnt. Nach zwei Wochen war es gegen ein "EF" ausgetauscht, aber die Schmach des Wessis blieb bestehen. Umgekehrt merkten wir, dass wir dort, wo wir im Ausland als "Ossis" durch unser Ost-Nummernschild galten, bei unseren Landsleuten auf eine Reserviertheit trafen, die wir bis dahin nicht gekannt hatten. Je weiter westlich unsere deutschen Mitbürger wohnten, umso mehr fremdelten sie mit uns. "Seids auch schon angekommen?" freuten sich wiederum Jahre später in San Gimignano (Toskana) joviale Bayern mit uns vermeintlichen Ostbürgern. Wer, so meine Erfahrung, zum Grenzgänger wird, scheint beide Identitäten zu verlieren, für die Ossis wird er immer "Wessi" bleiben, für den "Wessi" gehören wir auch nicht mehr richtig dazu. Heute ernte ich fragende Blicke bei westdeutschen Freunden, wenn ich sie frage, ob sie endlich eine bezahlbare Dreiraumwohnung gefunden haben.
In der ersten Zeit in Erfurt brachen nach einigen wenig freundlichen Erfahrungen zunächst meine Glanzbilder des Ostens schnell zusammen. Immer wieder bekam ich auf eine schon etwas stur vorgetragene Art zu hören, wie belesen die DDR-Bürger einstmals waren, erst seit der Vereinigung seien sie zu ständigen Fernsehkonsumenten geworden. Immer der unausgesprochene Vorwurf dahinter, dass dies nicht mehr so ist, daran seid ihr schuld. Früher war auf einmal alles besser. Die Kinder konnten gefahrlos auf der Straße spielen, alle hatten Arbeit, und überhaupt gab's weniger Kriminalität. Für sich genommen stimmen diese Aussagen sogar. Im Kontext hatten sie einen fragwürdigen Beigeschmack. Ich, die ich in meinen jungen Studentenjahren immer eine Kritikerin der kapitalistischen BRD-Gesellschaft war, und genaugenommen immer noch bin, sah mich in die Rolle des Advocatus diaboli gedrängt. Musste Dinge verteidigen, die ich selber schlecht fand. Auf beiden Seiten entstand damals viel Trotz. Das ist verständlich. Immerhin wurde die Vergangenheit des jeweils anderen fundamental in Frage gestellt und damit seine ganze Identität. Diese Früher-war-alles-besser-Mentalität befremdete mich und ließ mich fremdeln. Mein zunächst positives Bild von scheinbar menschlicher Wärme schlug vielleicht ein bisschen übertrieben in ein negatives um: Viele Menschen empfand ich als distanzlos. Wildfremde Menschen sprachen mich an, weil aus der Mütze meines Kindes ein Ohr herausragte: "Mutti, das Kind friert doch am Ohr." "Mutti" ist für mich hier im Osten zu einem echten Reizwort geworden, was sicher auch an seinem inflationären Gebrauch lag. "Mutti," so hieß es auch gleich in der Frauenklinik, "wie liegt denn das Kind da? Da guckt ja ein Füßchen aus dem Windelpaket!" Selbst auf dem Armbändchen meines Kindes stand "Mutti: Wollenhaupt". Ich glaube, und da sind wir auch schon wieder bei der Sprache: Hier sprechen Ostdeutsche und Westdeutsche unterschiedliche Sprachen. Auch als Mutter werde ich im Westen nicht zur "Mutti", sondern ich bleibe Frau Wollenhaupt-Schmidt. Aber die meinen das nicht so diskriminierend, wie ich es empfinde. Doch zurück zur Distanzlosigkeit. Beispielsweise transportierte ich, we nn ich in die Stadt fuhr, mein Baby in einer Bauchtrage, was mit zwei kleinen Kindern beim Straßenbahnfahren einfach praktischer und sicherer ist. Das wurde mit großem Misstrauen beäugt. Im Westen gehörten Frauen, die ihr Baby mit einem Tuch und einer Trage transportierten, zum gewohnten Bild, hier nicht. Während mir - und dem Baby - der Schweiß runterlief, wurde ich gefragt: "Friert denn das Kind auch nicht?" "Das arme Kind!" schüttelten auf der Straße besorgte Zeitgenossinnen empört den Kopf. Die waren nicht nur distanzlos, die waren engstirnig.
Engstirnigkeit umschreibt ein weiteres Phänomen, das mir hier sofort auffiel. Vom Rechtsradikalismus im Osten hatte ich schon viel gehört, was ich nicht überbewerten wollte, da die größten rechtsradikalen Verbrechen seinerzeit in Mölln und Solingen, also im Westen passiert waren. Als ich hier lebte, verschob sich schnell meine Perspektive. Es empfand niemand Scham dabei, auch normale, ja studierte Menschen nicht, Vietnamesen als Fidschi zu bezeichnen. Während die Einwanderergenerationen der späten 60er Jahre im Westen allgemein ganz gut integriert schienen, lebten hier Deutsche und Vietnamesen in fast völlig getrennten Zusammenhängen. Einzige Berührungspunkte waren die Zigarettenhändler, die überall herumstanden und verstohlen Plastiktüten ("Plastebeutel") mit Zigaretten aus Büschen hervorzogen, wenn Kundschaft auftauchte, sowie die Läden (im Ost-Jargon: "Fidschiläden") mit einem bizarren Sortiment aus Klamotten und Kitschgegenständen jeglicher Art. Ausländer als natürlicher Bestandteil einer multikulturellen Gesellschaft gehören hier deutlich weniger als im Westen zum Alltag. Stattdessen bemerkte ich viele Skinheads in der Straßenbahn. Mein zunächst überpositives Bild des Ostens schlug nach diesen Erfahrungen zeitweise ins Gegenteil um, und ich suchte die Nähe von Wessis.
Dies sollte sich interessanterweise wieder ändern, als meine älteste Tochter in den katholischen Kindergarten kam. In diesem eher kirchlich geprägten Milieu, das sicher auch zu DDR-Zeiten durch ein höheres Maß an Offenheit gegenüber dem Westen geprägt war, spielte es auf einmal nur noch eine äußerst geringe Rolle, ob einer aus dem Westen kam. Es wurde eine Krabbelgruppe gegründet, wo man sich einmal die Woche traf, quatschte, die Kinder erste Kontakte schließen konnten. Sicher gab es auch hier manchmal unterschwellige Ressentiments und bei mir doppelte Unsicherheit, weil mir neben dem Osten auch das katholische Milieu unbekannt war. Insgesamt aber ging es offen und freundlich zu, auch mit den Erzieherinnen im Kindergarten, von denen ich den Eindruck hatte, dass sie offen für neues waren, ohne alles alte negieren zu wollen. So konnte ich mein zeitweises Fremdeln relativieren, aus den Fremden aus dem Osten wurden Freunde bis zum heutigen Tag.
So verschieden waren die Lebenswege gar nicht mehr. Dass Mutterschaft (zumal für Akademiker wie mich) häufig mit Arbeitslosigkeit bezahlt werden muss, das war mir theoretisch irgendwie klar, aber ich hatte es für mich nicht wirklich in Betracht gezogen. Von daher war mir die DDR-Gesellschaft in dieser Hinsicht angenehmer, wo zwischen Familie und beruflicher Perspektive nicht gewählt werden musste. Tatsächlich konnte ich von diesen Strukturen noch profitieren. Es gab genug Kindergartenplätze, nicht so wie im Westen, wo man zeitweise sein Kind schon vor der Geburt anmelden musste. Und was äußerst angenehm war: Man stand nicht unter moralischem Rechtfertigungsdruck, wenn man sein Kind schon früh in den Kindergarten schicken wollte ("Rabenmutter") . Im Westen wäre es schon auf Grund des sozialen Drucks fast undenkbar gewesen, ein zwei Jahre altes Kind in den Kindergarten schicken. Hier war und ist es normal. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es den Kindern nicht nur nicht schadet, sondern sogar gut tut. Zunächst aber nützten mir die Strukturen wenig, denn als Arbeitslose braucht man keinen Ganztagsplatz. Ich sah die berufstätigen Mütter, die nach der Arbeit ihre Kinder abholten mit einem leisen Neidgefühl. Das war mein Lebenstraum: arbeiten gehen und Kinder haben. Beides. In dieser Hinsicht war ich schnell im Osten angekommen. Durch die wachsenden Freundschaften mit Ost- und Westfrauen, durch die Erfahrung, dass trotz manchem Trennenden das Gemeinsame überwog, merkte ich irgendwann gar nicht mehr, dass ich Wessi bin. Ich gehörte einfach dazu. Bis meine Fortbildung begann. Tatsächlich war es mit der Hilfe des Arbeitsamtes gelungen, in eine Vollzeit-Fortbildungsmaßnahme zu kommen, wo wir fit gemacht werden sollten für all die technischen Neuerungen wie Computer und Internet, die mir nur sehr oberflächlich bekannt waren. In dieser Fortbildung gab es effektiv nur Ostbürger außer dem Dozenten und mir. Und während in der warmen Atmosphäre meiner Kindergartenbekannten der Unterschied Ost-West am Schluss nahezu irrelevant war, wehte mir hier ein stellenweise eisiger Wind entgegen. Das ist verständlich, da waren lauter Menschen, z. T. mit glänzenden Karriereabsichten zu DDR-Zeiten, deren Lebensentwurf jäh abgeknickt worden war. Statt Karriere zu machen, waren sie Arbeitslose, an den Rand einer Gesellschaft gedrängt, die einige von ihnen noch nicht einmal gewollt hatten. Und unbestritten ist, dass unter den ersten Wessis, die nach 1989 in die DDR kamen, nicht wenige verantwortungslose Glücksritter, unfähige Beamte und hoffnungslose Arroganzlinge[2] waren, die fundamental und dauerhaft den Ruf nachfolgender Westler beschädigt hatten. Leute, mit einem Missionsdrang, den Leuten im Osten die doch teilweise fragwürdigen Segnungen des Westens zukommen zu lassen. Ignoranten, die blind waren für das, was an der DDR erhaltenwert gewesen wäre. Profitgierige Geschäftsleute, die aus reinem Geschäftsinteresse ganze Wirtschaftszweige binnen kurzer Zeit abmähten und sich so einerseits lästige Konkurrenz von Halse schufen und andererseits grenzenlose Marktchancen witterten. Abwicklung nannte sich das zynischerweise, und ich kann mir ohne die geringsten Probleme vorstellen, was in dem ehemaligen Drucker vorgegangen ist, als er fassungslos die Schließung seines Betriebes erleben musste, in dem hochqualifizierten Informatiker, dessen Arbeitsplatz im Krankenhaus durch die Umstrukturierung der Klinik einfach verschwand.
Sätze wie "nun wollen wir den Ossis mal das Arbeiten beibringen!" oder: "jetzt wird hier endlich anständige Arbeit geleistet!" oder: "die Ossis sind faul und den ganzen Tag nur am Feiern" tragen nicht unbedingt zum gegenseitigen Verständnis bei: sie zerstören anfängliches Interesse und erzeugen den oben angesprochenen verständlichen Trotz und eine fundamentale Unwilligkeit zum Dialog. Solche Sätze und ähnliche haben einige meiner Fortbildungskollegen hören müssen. Gleichermaßen war in ihrem Weltbild kaum nachvollziehbar, dass Westbürger im Osten genauso arbeitslos waren wie sie. Es galt auf beiden Seiten viele Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Natürlich bekam auch ich eine Menge Dinge zu hören, die schlichtweg unerträglich und dumm waren, auch hier wieder ein geschöntes DDR-Bild oder ein übertrieben negatives Bild der Realität eines vereinten Deutschlandes. Ich traf auch auf Borniertheit und Unbelehrbarkeit, die ein gegenseitiges Lernen und Akzeptieren letztlich verhinderte.
Nichts schadet dem dringend nötigen Zusammenwachsen so sehr, wie gegenseitige Ignoranz und Vorurteile. In verschiedenen Leserbriefen einer hiesigen Tageszeitung wurde vor einiger Zeit von interessanterweise durchgehend männlichen (Ost-)Lesern suggeriert, dass Frauen aus dem Westen im Unterschied zu ihren Ost-Mitbürgerinnen eine Erwerbstätigkeit aus purer Langeweile aufgenommen hätten und dass es folglich mehr recht als billig sei, dass deren Rentenanspruch geringer ausfiele. Diese, allein durch Unwissenheit zu erklärende Einschätzung ist so signifikant für den Unwillen, aufeinander zuzugehen. Sie argumentiert nämlich völlig an der Realität vorbei. Westdeutsche Frauen waren im Westen in geringerem Umfang erwerbstätig, weil dies erstens politisch erwünscht war: Frauen waren nur bei einer gesunden Arbeitsmarktlage, wie sie in den 60er Jahren im Westen bestand, auf dem Arbeitsmarkt gefragt. Mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit flogen sie, die industrielle Reservearmee des westdeutschen Arbeitsmarktes, als erste auf die Straße, das Bild der Hausfrau und Mutter wurde in den Medien und in der Werbung propagiert. Zweitens sahen sich im Unterschied zur DDR Frauen in der BRD Strukturen ausgesetzt, die die Vereinbarung von Familie und Berufsleben nur unter erheblichen Schwierigkeiten ermöglichte, was mit der bereits angesprochenen zu geringen Kinderbetreuung zusammenhängt.
In dieser Zeit eines anderen Kennenlernens, als ich es mit den "Kindergartenmüttern" im kirchlichen Milieu erlebt hatte entstand die Idee zu diesem Buch. Aus meiner Erfahrung von Fremdheit in einem Kontext, der von vierzigjähriger Unterbrechung ja doch auf gemeinsame Geschichte gegründet ist, fragte ich mich, wie es anderen Frauen gegangen ist. Andere Frauen, die "mitgegangen" sind mit ihren Männern oder Lebenspartnern, die es aus beruflichen Gründen in die neuen Bundesländer verschlagen hat. Frauen, die nicht eine Entscheidung getroffen, sondern mitgetroffen haben. Trotz dieser oft gebrauchten Vorsilbe "mit" mussten sie und, so vorhanden, auch die restlichen Familienmitglieder die Konsequenzen letztlich für sich tragen. Sei es durch berufliche Veränderungen, die mit dem Wohnortwechsel verbunden waren, sei es durch die Veränderung des persönlichen sozialen Umfeldes, der Wohnsituation, der Ausbildungssituation der Kinder. Was wie ein simpler Wohnortwechsel erscheint, ist faktisch eine radikale Umwälzung des gesamten Lebens. Ich wollte wissen, wie andere Frauen diese Veränderungen erlebt haben. Voneinander wissen ermöglicht aufeinander zuzugehen. Deshalb bestand meine Überlegung darin, dass viele Frauen, die aufgrund zunächst oft banal erscheinender Alltagserlebnisse die Unterschiede beider Gesellschaften, so man von zwei Gesellschaften sprechen mag, sehr intensiv erfahren haben.
Der Ansatz zu diesem Buch ist, in den Verschiedenheiten, die 40 Jahre unterschiedliche Sozialisation auf Generationen bewirkt haben, die Chance zu einer gemeinsamen und vielleicht kulturell reicheren Zukunft zu sehen. Weder diejenigen, die (n)ostalgischen Träumereien nachhängen, noch die Missionare der Segnungen des Westens können diese Überwindung schaffen. Sondern nur diejenigen, die bereit sind, einander zuzuhören, auch in den feineren Zwischentönen, die aber gleichzeitig ihre Geschichte und ihre kulturelle Identität als Teil ihrer selbst betrachten, können die Grundlagen für künftiges Gemeinsames schaffen. Dieses Buch ist also von der Grundüberlegung her hochgradig versöhnlich. Kulturen sind nichts statisches, sondern etwas, das sich ständig verändert. Stets in der Geschichte, sieht man vielleicht einmal vom Nationalsozialismus ab, haben Kulturen einander gegenseitig beeinflusst. Die Einwohner der westlichen Bundesländer wurden nach dem 2. Weltkrieg stark durch die jeweilige Besatzungsmacht beeinflusst. Die Literatur, die wir in der Schule lasen, war westlich determiniert, so wie vieles im Leben, über das wir uns nicht unbedingt immer Rechenschaft ablegten. Stattdessen wissen wir wahrscheinlich erschreckend wenig über die Länder, die damals zum Ostblock, den Warschauer-Pakt- oder RGW-Staaten gehörten.
Als ich mit den Vorarbeiten zu diesem Buch begann, habe ich an eine Menge Grenzgängerinnen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis gedacht. Die Methode ist das offene Interview: Anhand eines festgelegten und für alle gleichen Fragenkataloges soll die Möglichkeit gegeben werden, weiter auszuschweifen. So unterschiedlich die Frauen sind, so unterschiedlich sind ihre Erwartungen und Erfahrungen. Der Kreis an Interviewpartnerinnen wuchs ständig. Einige sind zurück in den Westen gezogen, der Kontakt verlor sich, bevor ich sie befragen konnte. Andere „Zurückgegangene“ können von doppelter Fremdheit berichten: Dass sie keine Ossis aber auch keine Wessis mehr sind. Unter diesen "Zurückgegangenen" weiß ich von mindestens einem Fall, dass Frustration über das Leben in Osten ausschlaggebend für die Rückkehr in den Westen war. Eine andere Grenzgängerin, die ich in Erfurt kennen lernte, kam ebenfalls aus Göttingen. Auch sie wollte ich befragen, doch als wir im Begriff waren, unsere Bekanntschaft zu vertiefen, nahm sie sich das Leben. Ihr, der - im Leben, nicht in Osten - Gescheiterten möchte ich dieses Buch widmen.
[1] An diesem Punkt weiche ich etwas von der Sicht von Elke Diehl, ab, die grundsätzlich richtig feststellte, dass die in Westdeutschland übliche Praxis, Berufsbezeichnungen usw. durch das große "I" auch stets die weibliche Form einzuschließen, in der DDR vollkommen unüblich war und stattdessen auch von Kaufmännern, Studenten, Technikern und Ärzten gesprochen wurde, wenn es um weibliche Repräsentantinnen dieses Berufszweiges ging. An die Innen gewöhnen. Sprache als Ausdruck gesellschaftlicher Realität, in: Katrin Rohnstock (Hrsg.), Stiefschwestern. Was Ost-Frauen und West-Frauen voneinander denken, Frankfurt/ M. 1994, S. 131 - 141. Das Buch von Katrin Rohnstock war mir eine unschätzbare Hilfe, mir noch einmal Rechenschaft abzulegen über die Frage, wie andere Frauen diese Ost-Westunterschiede sehen und konnte noch einmal auf Distanz zu einigen meiner Positionen gehen. Aus dieser Distanz heraus hatte ich nicht den Eindruck, dass sie falsch seien, gewann aber die Erkenntnis, dass ic h möglicherweise in manchen Dingen noch viel mehr "zwischen den Stühlen" saß als viele andere West-Frauen: Vieles, was ich von ihnen las, war mir sehr fremd, vielen, was ich von Ost-Frauen las, stand mir viel näher. Vielleicht verändert sich aber auch durch das Integriert-Sein im Osten unmerklich der Blickwinkel.
[2] 2. Ein erschütterndes Beispiel dieser Geisteshaltung ist mir erst im Zusammenhang mit den Vorarbeiten zu diesem Buch in die Hände gefallen. Zwar hatte ich gerüchtweise gehört, dass eine in Osten übergesiedelte Westbürgerin ihre Erfahrungen in einem Buch versammelt hatte, aber ich kannte dieses Buch nicht. Es handelt sich um das Buch " NeuLand. Ganz einfache Geschichten" von Luise Endlich, ein Pseudonym für Gabriele Mendling, die ihre Erfahrungen vom Umzug von Wuppertal ("Weststadt") nach Frankfurt/Oder ("Oststadt") aufgeschrieben hat. Frau Endlich/Mendling ist im gleichen Jahr wie ich in den Osten gezogen, so dass man von vergleichbaren Parametern ausgehen kann. Aber die beispiellose Arroganz, mit der sie mit der Geisteshaltung eines frühimperialistischen Missionars auf einen Haufen unzivilisierter Wilder trifft, so zumindest ist das Bild, das sie entwirft, ist erschreckend! Von allen "mitgegangenen" Westfrauen ist mir persönlich kein einziges Beispiel bekannt, das auch nur annähernd diese Geisteshaltung widerspiegelt. Sie unternimmt keinen einzigen Versuch, die Leistungen der DDR-Bürger anzuerkennen. Erhaltenswertes gibt es nach ihrer Ansicht nichts. Ostler, so Frau Endlich/Mendling tragen im Allgemeinen geschmacklose Kleidung, wissen von den Feinheiten zivilisierten und kulinarischen Lebens rein gar nichts. Es verwundert wenig, dass derartig dokumentierte Arroganz ohne Zweifel eher dazu beiträgt, Gräben aufzuwerfen, denn sie zu beseitigen.